Postkartendesign: Jörn Kitzhöfer // Bildbearbeitung: Annelena Witthus
Das war es also, das Jahr 2020. Ein Jahr der Veränderung und des Lernens.
Das Jahr 2020 startete für Vagabundo bereits im November 2019; auf dem Papier. Als sich das Kollegium um den Tisch versammelte und das anstehende Jahr plante, Kurse, Themenstunden, Kunstaktionen, Salons, der Besuch von Gastlehrern und zwei Reisen, war es wie immer gefühlt zu viel. Und gerade deswegen gingen wir sehr vorfreudig in die neuen Goldenen Zwanziger hinein. Um es mit Liberace zu sagen: Zu viel des Guten ist wundervoll.
Gerade schafften wir es noch, unseren lang ersehnten, maritimen Karnevalssalon ReeperBartsch über die Planken zu bringen, als sich die Nachrichtenlage verdunkelte und wir entsprechend zum ersten Mal überhaupt Salons und später Unterricht absagten. Und dieses Gefühl des ersten Males begleitete uns das gesamte Jahr über. Die Folge waren wie in jeder Branche das Auf- und Ab, die Diskussionen und Interpretation von Auflagen und Regeln, denen keiner von uns bisher ausgesetzt war.
Nun stehen wir am Ende des Jahres. Den Jahresplan haben wir schon lange zusammengerollt in die Ecke gestellt und das was kommt ist eher eine vage Skizze…ohne Datumsangaben. Aber Inhalte und ein Gefühl dafür, die gibt es. Denn auf eine Frage wuchs während des Jahres eine Antwort heran: Was ist Tango?
Die Frage, was Tango sei, wurde mir über die letzten 20 Jahre regelmäßig gestellt: von Schüler*innen, von Interviewern für irgendwelche Magazine oder Presseartikel oder in späten Stunden bei zu viel Bier am Küchentisch. Was ist Tango denn nun eigentlich? Ich habe es mir mit der Antwort über die Jahre gerne sehr leicht gemacht. Tango ist ein Tanz! Natürlich steckt mehr dahinter; ein gesamter Kulturbetrieb, eine Philosophie, aber mir ganz persönlich graute stets vor der Endlosdiskussion, in der oftmals ganze Weltansichten von Menschen in den Tango als heiligen Gral hineininterpretiert werden. Daher, so schön wie schlicht die Antwort: Tango ist ein Tanz.
In diesem Jahr habe ich dazulernen müssen, was meine Antwort betrifft. Wäre der Tango nur ein Tanz zu zweit mit passender Musik, so hätten wir ihn vermisst und hätten ihn wieder aufgenommen, wenn wir es wieder dürfen. Und manche werden es mit Sicherheit gemerkt haben, für sich: sie brauchen den Tango in ihrem Leben nicht mehr. Er wurde abgelöst durch andere Dinge, die in der Selbstreflexion des Lockdown-Gedämmers an Wichtigkeit gewannen. Retrospektiv war er vielleicht sogar für viele ein inzwischen konsolidierter, aufgeblähter Popanz, der Geld und Zeit schluckte. Auch das wäre doch eine interessante Erkenntnis.
Auch ich finde mich in meinem, inzwischen sortiertem und aufgeräumten Refugium, in dem ich auch vieles weggeschmissen habe recht wohl: Der Schlafrythmus hat sich harmonisiert, das frühe Aufstehen fällt ohne späte Wochenklassen und Herumgereise nicht mehr schwer; die Wochenenden ohne Salons sind durachaus harmonisch…Tango ist ein Tanz und der wurde in diesem Jahr seltener getanzt.
Und dennoch. Es ist mehr. Der Tango ist garnicht weg gewesen. Kein Tag ohne Tango in diesem Jahr. Die Musik, das tägliche Baden in diesem ganz eigenen Element kühlt nicht ab, die Bewegung des eigenen Körpers lässt immernoch über viele oberflächliche und profane Aufgaben hinwegschreiten. Ist es nicht genau das und sind Oberflächlichkeiten nicht genau dafür da? So glatt und platt, dass man entsprechend im Tangoschritt darüber hinwegstapft? Der Austausch mit Freund*innen über den Tango hat nicht aufgehört. Es wird interpretiert, analysiert, inzwischen auch wieder von der darstellenden zur bildenden Kunst umorientiert. Und auch meine Tangohosen, die im übrigen auch ohne tägliches Training auf der Fläche noch verdammt gut passen, sind auch ohne Tango-Klassen noch Teil meines Alltags geblieben.
Was ist es denn nun, der Tango? Keine Ahnung, möge sich jeder seine eigene Antwort darauf geben! Ein Tanz ist er und warum soll er sich nicht mal eine Pause geben für ein paar Monate. Es bleibt dieser wild-elegante Stil zu leben, der genauso erhalten bleibt, auch ohne Salons, die fiebrige Neugierde, mit der man auch andere, öde Aufgaben dieser Zeit um die Ecke bringt und er ist die Gesamtheit der Menschen, die ihn lieben und auf die ich mich jetzt schon wieder mit diebischem Herzklopfen freue: meine Schüler*innen im Saal anzutreiben, teils auch zu piesacken. Er ist der Salon, der mal zu kalt ist ist, mal zu überhitzt, mit mal zu stumpfen Boden, mal zu glatt, mal zu überfüllt und mal mal zu leer. Er ist die Zusammenkunft von Menschen, die ihn in 2020 nicht vergessen haben und ohne zurückzublicken einfach weitergelebt haben, als Stil und Einstellung zum Leben und in 2021 irgendwann und irgendwie als kleines Pflänzchen im Salon an der Ecke wieder gemeinsam blühen lassen.
Freuen wir uns also auf ein baldiges Nah-da und für diejenigen, die es für sich merken: Ein nada ist es nie.
Was ist Tango? Tango ist nah und da!
Jörn Kitzhöfer, Tango Vagabundo